»Wer braucht denn heute noch Kritiker? Die Buch- und Filmtipps der Empfehlungssysteme im Internet beraten den Kulturkonsumenten viel treffsicherer als das ein Filmkritiker, eine Buchhändlerin oder die Freunde auf Facebook jemals könnten. Und sie räumen auf mit der Illusion, dass wir Teil einer kulturellen Gemeinschaft sind, die den gleichen Geschmack teilt.«
Soweit der Teaser zu Kathrin Passigs Text (korrigiert: ursprünglich hatte ich geschrieben, der Teaser sei von ihr. Ich hätte mir allerdings denken können, daß sich an dieser Stelle ein Redakteur auslebt).
Ich teile die meisten ihrer in ihrem Artikel gebrachten Einschätzungen, ihre Skepsis bezüglich des »Unsere Freunde finden dasselbe gut wie wir.«-Glaubens, und ihre Bewertung von Empfehlungssystemen glaube ich ihr einfach, auch wenn sie bei mir bislang eher ins Leere laufen, aber vielleicht bin ich da auch einfach zu wenig Konsument. Ich habe erstmal nichts gegen Empfehlungssysteme.
Alles kein Thema. Mein Thema steckt in der Einstiegsfrage: »Wer braucht denn heute noch Kritiker?«, und etwas verklausulierter wird mitgefragt »wer braucht denn heute noch Rezensionen?«, »wer braucht denn heute noch persönliche Empfehlungen?«.
Hier, ich. Ich will sie und ich brauche sie. Denn sie leisten etwas anderes, sie bieten einen Mehrwert.
Ich habe ungelesene Bücher verschiedenster Richtungen im Regal stehen, ungesehene DVDs, ungehörte Musik, ungespielte Spiele.Ich seh sowieso zu viel fern, und zu den Liveauftritten von Künstlern aller Art, zu denen ich dann doch nicht gehe, hängen hinreichend Plakate. Das ist alles da, mehr als genug davon, auch in meiner Geschmacksrichtung. Ich komme gar nicht dazu das alles wegzukonsumieren. Keinerlei Notwendigkeit für ein Empfehlungssystem.
Eine gute Kritik bietet mir keine Empfehlung, sondern im besten Falle Erklärung, Analyse, Hintergrund. Ich erfahre etwas Neues. Und zwar auch dann, vielleicht sogar gerade dann, wenn ich das Kritisierte schon kenne, gesehen, gelesen, gehört habe. Dabei ist gar nicht wichtig, ob der Kritiker meiner Meinung ist, ob er meinen »Geschmack« teilt, und auch nicht, ob die mitgelieferte »Begründung des Geschmacksurteils [...] von einer nachträglichen Rationalisierung der Privatentfindung nicht zu unterscheiden« ist.
Eine gute Kritik macht mich auf Aspekte aufmerksam, die ich bislang übersehen habe, liefert Hintergrundwissen, das neu für mich ist, faßt in Worte, was ich an eigenem Empfinden bislang nicht gut zu greifen wußte, oder reizt auch zum Widerspruch, bietet mir Reibungsfläche, um meine eigene Position klarzukriegen, ob rational oder emotional. All dies verbessert mein Verständnis, meine Wahrnehmung des besprochenen Werks. Manches erschließt sich mir erst hierdurch richtig. Im besten Fall ist der Kritiker Fachmann, er weiß mehr über das besprochene Subjekt als ich, kann einordnen, gewichten, erklären. Erst die gute, in die Tiefe gehende Besprechung macht mir das eine oder andere (Kunst-)Werk zugänglich — oder entlarvt es. All das hat mit dem Urteil des Kritikers zu tun, nicht aber zwingend mit seiner Meinung, die ich ja nicht unbesehen übernehme.
Büchernörgele |
Diesen Unterhaltungswert haben die meisten Rezensionen nicht. Die DVD-Rezensionen auf Amazon sind nicht unbedingt gut geschrieben, aber sie leisten trotzdem etwas eigenständiges, sie erzählen mir, was für eine Art Film ich hier vor mir habe. Nur eine Rezension lesen reicht nicht. Die Kombination macht es. Der Vergleich der positiven mit der negativen. Viel stärker als auf den Inhalt geh ich hier auf den Stil der Rezension, denn selbiger sagt mir, wie relevant diese für mich ist. Klingt hinter der Rezension der Actionfan durch, so werde ich seine Bewertung entsprechend gewichten, und mit etwas Übung läßt sich unterscheiden, ob der Film langweilig ist oder der Rezensent einfach kein Gespür für Ironie hat. Eine negative Rezension eines offensichtlichen Ignoranten kann eine Empfehlung sein. Ich hatte auch an sehr schlecht bewerteten Filmen viel Spaß.
(Im Fall von Amazon ist Rezensionen lesen zudem häufig die einzige Möglichkeit herauszufinden, was für Zusatzmaterial, Audiokommentare etc. die DVD bietet, die von Amazon gelieferten Daten sind hier erstaunlich schlecht. Aber das nur nebenbei, trägt nichts zum Thema bei.)
Ein paar solche Rezensionen quergelesen sagen mir mehr über die Stimmung eines Films als ein Werbe-Klappentext dies vermag, und selbst diese Klappentext erlauben mir am 4€-DVD-Grabbeltisch inzwischen mit einer gewissen Trefferquote die exotische Perle vom reinen Trash zu unterscheiden. Eine softwaregenerierte Empfehlung sagt mir, daß mich ein Film interessieren könnte, aber nicht wieso. Ich bin nicht immer in der gleichen Stimmung, und eine Einschätzung, was für eine Art Werk ich da vor mir habe, hilft sehr. Ein kurzer Text, der mir sagt, warum dieses Werk in die Auswahl kommt, unterstützt zumindest mich.
Nun zum mir wichtigsten Punkt, der persönlichen Empfehlung. Ich erlebe persönliche Empfehlungen in zwei sehr unterschiedlichen Geschmacksrichtungen. Zum einen schlicht als Crowdsourcing-Vorschlags- und Filtersystem: Ich häng im IRC rum und jemand pastet einen Twitter- oder Youtube-Link in den Channel, auf Google+ kombiniert ein Post eine kurze mein Interesse weckende Bemerkung mit einem Link auf eine Webseite. All das sind Empfehlungen, von Menschen vorgefilterte Angebote. Ich habe dementsprechend Menschen in meinen Circles, von denen ich mir spannende Posts und Links erwarte, die mir also andauernd Sachen vorschlagen. Über manchen weiß nichts außer diese Posts, eine persönliche Beziehung ist keineswegs Voraussetzung, allenfalls Folge.
Zum anderen Empfehlungen von Freunden, von Personen, zu denen ich eine Beziehung aufgebaut habe. Empfiehlt ein Freund mir ein Buch, eine DVD, einen Musiker, Kabarettisten etc., so erzählt er mir etwas über sich. Ihn hat das beeindruckt, berührt, interessiert, unterhalten. Wenn ich dieses Angebot annehme, stellt dies eine weitere Beziehung zu ihm her, schafft es gemeinsamen kulturellen Hintergrund, ein gemeinsames Referenzsystem, gemeinsames »Erleben«. Wir können uns über gemeinsame Bücher, Filme, Lieder unterhalten, daraus zitieren. Meine Beziehung zum Empfehlenden macht das Werk lesenswert. Ich mag des Buch nach 50 Seiten abbrechen oder den Film schrecklich finden, aber ich bin zunächst interessiert zu verstehen, was ihn daran fasziniert hat, gestehe dem Werk einen kleinen Tick mehr zu.
Zu Kollegstufenzeiten hat ein Freund mir das Böll Lesebuch geschenkt. Unerwartet. Ich hätte mir das nie selbst gekauft, auch nicht aus der Bücherei ausgeliehen. Aber das Buch war da, war ein Geschenk, also habe ich angefangen zu lesen. Und es hat mir gefallen. Ein paar Jahre später hat mir eine alte Freundin (sie war damals wohl um die Sechzig) zum Geburtstag den »Punk und Bärte«-Raben geschenkt. Neu, anders. Auch etwas, worüber ich wohl sonst nicht so einfach gestolpert wäre. Die besten Geschenke diesbezüglich kamen nicht unbedingt von Leuten, die mich besonders gut kannten, sondern von denen, die einfach etwas verschenkten, das sie interessiert, etwas, was mir ein neues Segment der Welt zeigt. Ich muß diese neue Sicht nicht mögen, aber ich weiß nun, daß sie existiert. und ich freue mich, wenn mir dies ebenfalls gelingt, wenn mein Geschenk dem Beschenkten etwas neues zeigt, etwas, was dieser sich nicht selbst beschafft hätte.
Allein das jemand, den ich schätze, ein bestimmtes Werk vorschlägt, ist für mich ein Hinweis, daß es sich lohnen könnte, hier Zeit zu investieren. Im besten Fall liefert er mir noch etwas persönlichen Hintergrund dazu. Das muß nicht der beste Freund sein, eine ganze Reihe Empfehlungen habe ich mir beispielsweise aus Audiokommentaren geholt. Dieser und jener Film waren großes Vorbild für den künstlerischen Stil oder die Erzählweise, ein anderer war der Erste, in dem ein bestimmte Effekt eingesetzt wurde. Das alles sind Empfehlungen, die den empfohlenen Film gleichzeitig aufwerten und mein Augenmerk auf Aspekte richten, die ich andernfalls wohl übersehen hätte. Oder, um auf intellektuell zu machen und Benjamin zu bemühen: sie tragen zur Aura des Kunstwerks bei.
Das Werk steht ja nicht im luftleeren Raum für sich allein, es wirkt auch durch seine Beziehungen zu meiner Erfahrungswelt, und zu diesen gehört eben auch und gerade, von wem es empfohlen wurde und was es für denjenigen bedeutet. Ist wichtig, weil es jemand bestimmtem wichtig ist.
Und schließlich sind da Menschen, die mich gut genug kennen, um mir in konkreten Situationen konkrete Texte, Filme oder Musik vorzusetzen, weil sie wissen, daß das gerade richtig ist.
Henry meint, er schlägt vor, diesen viel zu langen Text jetzt zu beenden.
[Stören diese schrecklichen JPEG-Artefakte im verlinkten PDF eigentlich nur mich?]
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