Professor Ratzinger hat auf Einladung des Ältestenrates des Deutschen Bundestages gestern eine
Vorlesung zum Thema Natur und Vernunft gehalten.
Eine nette kleine Einführungsvorlesung, die sich einiger schöner Argumentationsmuster und rhetorischer Tricks bedient. Daher hier ein wenig Textanalyse.
Die Einleitung:
»Es ist mir Ehre und Freude, vor diesem Hohen Haus zu sprechen – vor
dem Parlament meines deutschen Vaterlandes, das als demokratisch
gewählte Volksvertretung hier zusammenkommt, um zum Wohl der
Bundesrepublik Deutschland zu arbeiten. Dem Herrn Bundestagspräsidenten möchte ich für seine Einladung zu dieser
Rede ebenso danken wie für die freundlichen Worte der Begrüßung und
Wertschätzung, mit denen er mich empfangen hat. In dieser Stunde wende
ich mich an Sie, verehrte Damen und Herren – gewiß auch als Landsmann, der sich lebenslang seiner
Herkunft verbunden weiß und die Geschicke der deutschen Heimat mit
Anteilnahme verfolgt. Aber die Einladung zu dieser Rede gilt mir als
Papst, als Bischof von Rom, der die oberste Verantwortung für die
katholische Christenheit trägt. Sie anerkennen damit die Rolle, die dem
Heiligen Stuhl als Partner innerhalb der Völker- und Staatengemeinschaft
zukommt. Von dieser meiner internationalen Verantwortung her möchte ich
Ihnen einige Gedanken über die Grundlagen des freiheitlichen
Rechtsstaats vorlegen.«
Zunächst konstituiert der Redner sich und seine Rolle in Beziehung zum Gastgeber. Er ist Sohn dieses Landes, seiner Heimat. Das schafft Verbundenheit. Aber er tritt nicht als Landsmann an, nein, er ist eingeladen in seiner Funktion als Papst, und dies in einer Doppelrolle: zum einen als oberster Vertreter der katholischen Christenheit, zum anderen als Staatsoberhaupt des
Heiligen Stuhls. Und nun setzt er die Bedeutung dieser Einladung: sie ist die Anerkennung dieser Doppelrolle innerhalb der Völker- und Staatengemeinschaft. Dies ist nicht nur rechtlich interessant (der Heilige Stuhl hat es immerhin geschafft, ein eigenes Völkerrechtssubjekt zu sein, siehe Link für Details) sondern vor allem inhaltlich: »die Rolle« anzuerkennen meint natürlich »die
wichtige Rolle«. Schließlich trägt er internationale Verantwortung.
Es ist ihm »Ehre und Freude«, also keineswegs selbstverständlich, vor dem Bundestag zu sprechen. Hier ordnet er sich ein, als Gast eines Souverän, nicht als Höhergestellter. Und schließlich sagt er uns noch, daß der Bundestag als »demokratisch
gewählte Volksvertretung hier zusammenkommt, um zum Wohl der
Bundesrepublik Deutschland zu arbeiten«, macht also nochmal klar, was die Aufgabe der Anwesenden ist, eigentlich eine Selbstverständlichkeit, aber ein wichtiger Punkt der kommenden Rede, deren Thema ja gerade die Grundlagen des freiheitlichen Rechtsstaates sein soll.
»Lassen Sie mich meine Überlegungen über die Grundlagen des Rechts mit
einer kleinen Geschichte aus der Heiligen Schrift beginnen. Im ersten Buch der Könige wird erzählt, daß Gott dem jungen König
Salomon bei seiner Thronbesteigung eine Bitte freistellte. Was wird sich
der junge Herrscher in diesem wichtigen Augenblick erbitten? Erfolg –
Reichtum – langes Leben – Vernichtung der Feinde? Nicht um diese Dinge
bittet er.
Er bittet: „Verleih deinem Knecht ein hörendes Herz, damit er dein Volk
zu regieren und das Gute vom Bösen zu unterscheiden versteht“ (1 Kön
3,9). Die Bibel will uns mit dieser Erzählung sagen, worauf es für einen
Politiker letztlich ankommen muß. Sein letzter Maßstab und der Grund
für seine Arbeit als Politiker darf nicht der Erfolg und schon gar nicht
materieller Gewinn sein. Die Politik muß Mühen um Gerechtigkeit sein
und so die Grundvoraussetzung für Friede schaffen.«
Aufgabe der Politik ist also Mühen um Gerechtigkeit. Wieso ist dies so? (Unter anderem) weil Gerechtigkeit Grundvoraussetzung für Frieden ist. Friede als Grundwert an sich wird nicht weiter diskutiert, scheint sicher auch erstmal konsensfähig, dies ist allerdings ob des zunehmenden militärischen Engagements gar nicht mehr so klar.
Aufgabe der Politik ist also zum Wohl der BRD zu arbeiten und Gerechtigkeit und Frieden zu schaffen. Das kann ich erstmal so annehmen, auch wenn der Redner beim
Gerechtigkeitsbegriff unscharf bleibt. Geht es um Rechtstaatlichkeit, um Verteilungsgerechtigkeit, ...?
»Natürlich wird ein
Politiker den Erfolg suchen, der ihm überhaupt die Möglichkeit
politischer Gestaltung eröffnet. Aber der Erfolg ist dem Maßstab der
Gerechtigkeit, dem Willen zum Recht und dem Verstehen für das Recht
untergeordnet. Erfolg kann auch Verführung sein und kann so den Weg
auftun für die Verfälschung des Rechts, für die Zerstörung der
Gerechtigkeit. „Nimm das Recht weg – was ist dann ein Staat noch anderes
als eine große Räuberbande“, hat der heilige Augustinus einmal gesagt.«
Der Redner erkennt an, daß der Politiker nach Erfolg strebt. Was heißt Erfolg? Naja, ich bin erfolgreich, wenn ich es schaffe, meine Ziele umzusetzen. Das Politiker ihre Ziele umsetzen wollen, scheint klar. Wieso ihm dieser Erfolg erst ermöglicht, politisch zu gestalten, wirkt zunächst verwirrend, wenn ich meine Ziele umgesetzt habe, hab ich doch gestaltet. Wir werden dies gleich auflösen.
Nun erfahren wir, daß der Zweck nicht die Mittel heiligt. Im Zweifel muß ich den Erfolg der Gerechtigkeit unterordnen, eine »Verfälschung des Rechts« würde zur Zerstörung dieses Grundwertes führen. Zudem benutzt der Redner nun Recht und Gerechtigkeit synonym. Er behauptet nirgends explizit die Identität beider Begriffe, stellt sie jedoch in einer Form nebeneinander, die diese Interpretation nahelegt. Er benötigt sie auch im Folgenden, und seine Nutzung zeigt implizit, daß er unter Recht nicht den Inhalt von Gesetzbüchern versteht. Er erspart sich durch diesen Kniff eine Diskussion des Rechts- und Gerechtigkeitsbegriffs. Dies mag für das Thema des Vortrags sogar legitim sein, da die konkrete Ausprägung dieser Begriffe vordergründig für seine Thesen nicht relevant ist, ist nichtsdestotrotz ein geschicktes Mittel diese Fragen ignorieren zu können.
Das Augustinuszitat dient hier übrigens zur Bebilderung, nicht als Beweis. Dies gilt durchgehend, der Redner beruft sich an keiner Stelle ausschließlich auf die Bibel, nicht auf irgendwelches mythische Wissen, auf göttliche Eingebung, seine Argumente behalten auch für Ungläubige Gültigkeit. Dies stärkt selbstverständlich seine Position.
»Wir Deutsche wissen es aus eigener Erfahrung, daß diese Worte nicht ein
leeres Schreckgespenst sind. Wir haben erlebt, daß Macht von Recht
getrennt wurde, daß Macht gegen Recht stand, das Recht zertreten hat und
daß der Staat zum Instrument der Rechtszerstörung wurde – zu einer sehr
gut organisierten Räuberbande, die die ganze Welt bedrohen und an den
Rand des Abgrunds treiben konnte.«
Nun kommt den nächste rhetorische Schachzug. Wo vorher von Erfolg die Rede war, steht nun Macht. Dies löst nun auch die Verwirrung von oben. Ersetzen wir testweise im obigen Text: »Natürlich wird ein
Politiker
die Macht suchen, der ihm überhaupt die Möglichkeit
politischer Gestaltung eröffnet.« Das klingt schon viel schlüssiger. Der Politiker benötigt Macht, um gestalten zu können. Er hat also Erfolg, wenn er Macht erlangt hat, und nicht dann, wenn er, wie wir oben naiv angenommen haben, Ziele umsetzen konnte. Eine durchaus spannende und wohl auch zutreffende Beschreibung des politischen Systems.
Und weiter: »Aber
Machterwerb und Machtausübung sind dem Maßstab der
Gerechtigkeit, dem Willen zum Recht und dem Verstehen für das Recht
untergeordnet.
Macht kann auch Verführung sein und kann so den Weg
auftun für die Verfälschung des Rechts, für die Zerstörung der
Gerechtigkeit.« Auch das kennen wir schon von anderer Seite: »Macht korrumpiert. Absolute Macht korrumpiert absolut.« sagte Baron Acton in seinem Kampf gegen die päpstliche Unfehlbarkeitsdoktrin.
Dies führt ein im Folgenden wesentliches Argument ein, das im Kern
besagt: Machtbesessenheit zerstört unsere Grundwerte, und das in dieser
Form sicher konsensfähig ist, und zwar auch bei denen, die von den
jeweils anderen für machtbesessen gehalten werden.
Zurück zum letzten Zitat. Seine Kernaussage lautet, daß eine Staatsmacht, die das Recht nicht achtet, die Welt an den Abgrund treiben kann. Belegt wird dies durch den Verweis auf das historische Gedächtnis der Deutschen. Das nationalsozialistische Unrechtsregime wird hier an keiner Stelle explizit genannt, ja es bleibt unbestimmt, ob nicht vielleicht eher die »gottlosen« Regime auf der anderen Seite des eisernen Vorhangs gemeint sind, die in gemeinschaftlichem Wettrüsten mit dem ach so christlichen Westen die Welt an den Abgrund der atomaren Auslöschung brachten. Auch dies ist rhetorisch sehr geschickt, der Zuhörer setzt hier einfach sein Feindbild ein und der Redner kommt nicht in Verlegenheit, die nicht unbedingt rühmliche Rolle der Kirche in der NS-Zeit oder die Schuldfrage des kalten Krieges diskutieren zu müssen.
»Dem Recht zu dienen und der Herrschaft
des Unrechts zu wehren ist und bleibt die grundlegende Aufgabe des
Politikers. In einer historischen Stunde, in der dem Menschen Macht
zugefallen ist, die bisher nicht vorstellbar war, wird diese Aufgabe
besonders dringlich. Der Mensch kann die Welt zerstören. Er kann sich
selbst manipulieren. Er kann sozusagen Menschen machen und Menschen vom
Menschsein ausschließen.«
Wir haben also gelernt, wie wichtig Gerechtigkeit (Recht) ist, und nun lernen wir, daß dies wichtiger denn je ist, da auch die Macht des Menschen gewachsen ist. Er kann nicht mehr nur Einzelne töten oder ihnen die Würde nehmen, nein, er kann »die Welt« zerstören, Menschen entmenschlichen.
»Wie erkennen wir, was recht ist? Wie können wir
zwischen Gut und Böse, zwischen wahrem Recht und Scheinrecht
unterscheiden? Die salomonische Bitte bleibt die entscheidende Frage,
vor der der Politiker und die Politik auch heute stehen.«
Hier haben wir nun die eigentliche Frage: »was ist recht?« Bis zu dieser Stelle hat der Text nur darauf hingearbeitet, diese Frage stellen zu können, zu begründen, wieso sie notwendig ist. Und es ist nicht nur eine, es ist
die entscheidende Frage.
In einem Großteil der rechtlich zu regelnden Materien kann die
Mehrheit ein genügendes Kriterium sein. Aber daß in den Grundfragen des
Rechts, in denen es um die Würde des Menschen und der Menschheit geht,
das Mehrheitsprinzip nicht ausreicht, ist offenkundig: Jeder
Verantwortliche muß sich bei der Rechtsbildung die Kriterien seiner
Orientierung suchen. Im 3. Jahrhundert hat der große Theologe Origenes
den Widerstand der Christen gegen bestimmte geltende Rechtsordnungen so
begründet: „Wenn jemand sich bei den Skythen befände, die gottlose
Gesetze haben, und gezwungen wäre, bei ihnen zu leben …, dann würde er
wohl sehr vernünftig handeln, wenn er im Namen des Gesetzes der
Wahrheit, das bei den Skythen ja Gesetzwidrigkeit ist, zusammen mit
Gleichgesinnten auch entgegen der bei jenen bestehenden Ordnung
Vereinigungen bilden würde …“
Von dieser Überzeugung her haben die Widerstandskämpfer gegen das
Naziregime und gegen andere totalitäre Regime gehandelt und so dem Recht
und der Menschheit als ganzer einen Dienst erwiesen. Für diese Menschen
war es unbestreitbar evident, daß geltendes Recht in Wirklichkeit
Unrecht war.
Dieser Abschnitt hat es in sich. Eigentlich ist er inhaltlich konsensfähig, argumentativ jedoch alles andere als sauber. Zunächst erfahren wir, daß das Mehrheitsprinzip für eine ganze Reihe von Sachen zumindest gut genug ist. Aber sobald es ans Eingemachte geht, an die Grundfragen, da reicht es nicht mehr. Und daß dem so ist, ist offenkundig. Wirklich? Nun, ich würde der Einschätzung, daß das Mehrheitsprinzip nicht alles ist, wohl zustimmen, aber offenkundig finde ich das nicht. Nun, nach dem offenkundig kommt ein Doppelpunkt, vielleicht begründet der Redner ja, wieso dies offenkundig ist.
Wir werden zunächst enttäuscht, denn der nächste Satz klärt uns über die
Folgen dieses Befundes auf, begründet ihn jedoch nicht. Aber dann, in den folgenden Sätzen scheint es argumentative Begründungen zu geben. Zunächst erfahren wir von einem hypothetischen Gedankenexperiment, in dem Origenes die Bildung von christlichen Geheimgesellschaften gegen eine skythische Rechtsordnung befürwortet. Er begründet dies damit, daß die Skythen gottlose Gesetze haben und ein vernünftiger Mensch nach dem Gesetz der Wahrheit (gemeint ist hier wohl das Gesetz des Christentums) leben sollte. Im nächsten Abschnitt erklärt der Redner, die Widerstandskämpfer gegen das Nazi- wie auch andere totalitäre Regime hätten diese Überzeugung geteilt. Und er schließt damit, daß diesen Menschen evident war, daß das gerade geltende Recht Unrecht war.
Haben die Widerstandskämpfer wirklich die Überzeugung geteilt, daß die Nazis gottlose Gesetze haben und deshalb erkannt, daß Widerstand ein Dienst am Recht und an der Menschheit darstellt? Manche von ihnen sicher, es gab christlichen Widerstand. Aber es gab auch kommunistischen und humanistischen Widerstand, für sie war nicht die Gottlosigkeit sondern die Menschenverachtung Grund zum Widerstand. Was macht der Redner hier? Er baut eine Begründung, die keine ist, und
stellt Zusammenhänge her, die überhaupt nicht zwingend existieren.
Den Widerstand gegen die Franco-Diktatur brauche ich hier wohl einfach nur erwähnen, der Papst-Besuch in Madrid hat die Diskussion ja gerade wieder aufflackern lassen.
Zur Erinnerung: der Redner sollte zeigen, daß das Mehrheitsprinzip nicht ausreicht um zu erfassen, was Recht ist. Nun zeichnet das Naziregime wie andere totalitären Regime gerade aus, daß sie nicht demokratisch legitimiert sind (spätestens mit dem Verbot der anderen Parteien ist von Mehrheitsprinzip nichts mehr zu sehen). Folglich kann der Widerstand gegen ein totalitäres System nicht als Begründung dafür herangezogen werden, daß das Mehrheitsprinzip nicht hinreichend ist. Folglich bleibt diese These des Redners unbegründet (naja, sie ist ja auch »offenkundig«).
Doch in diesem Abschnitt passiert noch mehr. Er sagt: »Jeder
Verantwortliche muß sich bei der Rechtsbildung die Kriterien seiner
Orientierung suchen«. Mit anderen Worten: die Rechtsbildenden, also die Legislative, das Parlament, benötigen Kriterien, und diese Kriterien können nicht einfach die Meinung der Mehrheit sein (letzteres bleibt wie gesehen unbegründet).
»Aber bei den Entscheidungen eines demokratischen Politikers
ist die Frage, was nun dem Gesetz der Wahrheit entspreche, was wahrhaft
recht sei und Gesetz werden könne, nicht ebenso evident. Was in Bezug
auf die grundlegenden anthropologischen Fragen das Rechte ist und
geltendes Recht werden kann, liegt heute keineswegs einfach zutage. Die
Frage, wie man das wahrhaft Rechte erkennen und so der Gerechtigkeit in
der Gesetzgebung dienen kann, war nie einfach zu beantworten, und sie
ist heute in der Fülle unseres Wissens und unseres Könnens noch sehr
viel schwieriger geworden.«
Wir leben nicht mehr in einer Diktatur mit einem menschenverachtenden Unrechtssystem, also ist nicht mehr für jeden offensichtlich, was denn jetzt eigentlich Recht ist. Schwierig, schwierig, was machen wir jetzt nur, die Mehrheit können wir ja nicht fragen.
»Wie erkennt man, was recht ist? In der Geschichte sind
Rechtsordnungen fast durchgehend religiös begründet worden: Vom Blick
auf die Gottheit her wird entschieden, was unter Menschen rechtens ist.«
Also bislang hat man meistens geschaut, was die Religion dazu sagt. Ob das gut war, wird vom Redner nicht diskutiert. Wenn dies also ein Argument sein sollte dann allenfalls: »Das haben wir schon immer so gemacht«
»Im Gegensatz zu anderen großen Religionen hat das Christentum dem Staat
und der Gesellschaft nie ein Offenbarungsrecht, eine Rechtsordnung aus
Offenbarung vorgegeben. Es hat stattdessen auf Natur und Vernunft als
die wahren Rechtsquellen verwiesen – auf den Zusammenklang von
objektiver und subjektiver Vernunft, der freilich das Gegründetsein
beider Sphären in der schöpferischen Vernunft Gottes voraussetzt.«
Wir haben zwar noch keinen wirklichen Grund gehört, wieso wir gerade die Religion zu Rate ziehen sollen um Kriterien zu finden, außer daß wir das früher auch schon so gemacht haben, aber wir erfahren nun, daß das Christentum hier etwas anders macht als die anderen großen Religionen. Und zwar verweist das Christentum bei der Frage, wie unser Rechtssystem aussehen soll, eben nicht auf die Regeln der Thora, der Koran, also auf einen von Gott gegebenen Satz von Gesetzen, sondern »auf den Zusammenklang von
objektiver und subjektiver Vernunft«, der in der Lage ist, diese Gesetze zu schaffen.
Manchen Christen wird überraschen, daß wir unsere Rechtsordnung nicht auf die von Gott offenbarten zehn Gebote stützen sollen, doch die Praxis bestätigt: viele von ihnen sind heutzutage bei uns nicht strafbewehrt.
Nichtsdestotrotz reichen objektive und subjektive Vernunft alleine nicht, sie müssen auf die schöpferische Vernunft Gottes gegründet sein.
»Die
christlichen Theologen haben sich damit einer philosophischen und
juristischen Bewegung angeschlossen, die sich seit dem 2. Jahrhundert v.
Chr. gebildet hatte. In der ersten Hälfte des 2. vorchristlichen
Jahrhunderts kam es zu einer Begegnung zwischen dem von stoischen
Philosophen entwickelten sozialen Naturrecht und verantwortlichen
Lehrern des römischen Rechts. In dieser Berührung ist die abendländische
Rechtskultur geboren worden, die für die Rechtskultur der Menschheit
von entscheidender Bedeutung war und ist. Von dieser vorchristlichen
Verbindung von Recht und Philosophie geht der Weg über das christliche
Mittelalter in die Rechtsentfaltung der Aufklärungszeit bis hin zur
Erklärung der Menschenrechte und bis zu unserem deutschen Grundgesetz,
mit dem sich unser Volk 1949 zu den „unverletzlichen und
unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen
Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt“ bekannt
hat.«
Hier bekommen wir zwei Jahrtausende Rechtsgeschichte im Schnelldurchgang und lernen, daß die Verbindung von griechischen Philosophen (Naturrecht) und römischen Juristen Basis einer Entwicklung hin zu Menschenrechten und Grundgesetz darstellt, und daß die christlichen Theologen dabei mitgespielt haben.
»Für die Entwicklung des Rechts und für die Entwicklung der Humanität
war es entscheidend, daß sich die christlichen Theologen gegen das vom
Götterglauben geforderte religiöse Recht auf die Seite der Philosophie
gestellt, Vernunft und Natur in ihrem Zueinander als die für alle
gültige Rechtsquelle anerkannt haben. Diesen Entscheid hatte schon
Paulus im Brief an die Römer vollzogen, wenn er sagt: „Wenn Heiden, die
das Gesetz (die Tora Israels) nicht haben, von Natur aus das tun, was im
Gesetz gefordert ist, so sind sie… sich selbst Gesetz. Sie zeigen
damit, daß ihnen die Forderung des Gesetzes ins Herz geschrieben ist;
ihr Gewissen legt Zeugnis davon ab…“ (Röm 2,14f). Hier erscheinen die
beiden Grundbegriffe Natur und Gewissen, wobei Gewissen nichts anderes
ist als das hörende Herz Salomons, als die der Sprache des Seins
geöffnete Vernunft.«
Die Leistung des Christentums in diesem Prozeß besteht nun darin, daß sie dieses griechisch-römische Rechtskonstrukt bewahrt, als »für alle
gültige Rechtsquelle anerkannt« haben. Ob dem wirklich so ist, ist sicher diskussionswürdig und wird vom Redner auch nicht wirklich nachgewiesen. Daß Paulus vor 2000 Jahren gesagt hat: wer sich zufällig an die Thora hält, macht das, weil sein Gewissen es ihm sagt; daß er dabei die Begriffe Natur und Gewissen zueinander in Bezug gesetzt hat, zeigt nicht, ob die christlichen Theologen wirklich so wichtig für den Erhalt und die Weiterentwicklung dieses Rechtskonstrukts waren. Die Einführung des
Inquisitionsverfahrens um 1215 war gegenüber dem vorherrschenden germanischen Akkusationsverfahren sicher ein echter Fortschritt, für eine weitergehende Beurteilung fühle ich mich schlicht nicht kompetent.
»Wenn damit bis in die Zeit der Aufklärung, der
Menschenrechtserklärung nach dem Zweiten Weltkrieg und in der Gestaltung
unseres Grundgesetzes die Frage nach den Grundlagen der Gesetzgebung
geklärt schien, so hat sich im letzten halben Jahrhundert eine
dramatische Veränderung der Situation zugetragen. Der Gedanke des
Naturrechts gilt heute als eine katholische Sonderlehre, über die
außerhalb des katholischen Raums zu diskutieren nicht lohnen würde, so
daß man sich schon beinahe schämt, das Wort überhaupt zu erwähnen.«
Auf dieser so geschaffenen und bewahrten Grundlage konnten Aufklärung, Menschenrechte und Grundgesetz entstehen, und wir glaubten zu wissen, wie das mit Gerechtigkeit und Recht schaffen funktioniert. Doch plötzlich, in den letzten fünfzig Jahren, hat sich das geändert. Plötzlich wird so getan als wäre dieses über zweitausend Jahre bewahrte und bewährte Mittel eine Mindermeinung einer kleinen Sekte.
Was passiert hier? Wir bekommen ein Drama präsentiert: die Grundpfeiler unseres Wertesystems sind zerstört. Zu Ende gedacht haben wir Gesetze ohne Recht und Gerechtigkeit. Diese Zerstörung besteht darin, daß das Naturrecht plötzlich als katholische Sonderlehre gilt.
»Ich
möchte kurz andeuten, wieso diese Situation entstanden ist. Grundlegend
ist zunächst die These, daß zwischen Sein und Sollen ein
unüberbrückbarer Graben bestehe. Aus Sein könne kein Sollen folgen, weil
es sich da um zwei völlig verschiedene Bereiche handle. Der Grund dafür
ist das inzwischen fast allgemein angenommene positivistische
Verständnis von Natur und Vernunft. Wenn man die Natur – mit den Worten
von H. Kelsen – als „ein Aggregat von als Ursache und Wirkung
miteinander verbundenen Seinstatsachen“ ansieht, dann kann aus ihr in
der Tat keine irgendwie geartete ethische Weisung hervorgehen. Ein
positivistischer Naturbegriff, der die Natur rein funktional versteht,
so wie die Naturwissenschaft sie erklärt, kann keine Brücke zu Ethos und
Recht herstellen, sondern wiederum nur funktionale Antworten
hervorrufen.«
So, nun wird es endlich inhaltlich spannend. Der Gegensatz zwischen einer naturwissenschaftlichen, funktionalen Beschreibung der Welt (»Sein«) und ethischen Werten (»Sollen«) wird aufgespannt. Überspitzt gesagt kann mir die Naturwissenschaft sagen, daß mein Gegenüber tot ist, wenn ich ihm den Kopf abschlage, aber zur Entscheidung, ob das gut oder böse ist, brauche ich Ethik.
Der unüberbrückbare Graben zwischen beiden besteht darin, daß es sich um »völlig verschiedene Bereiche« handelt. Und das wiederum liegt am positivistischen Verständnis von Natur und Vernunft. Dies impliziert, daß ein anderes, nicht positivistisches Verständnis, diesen Graben überbrücken würde.
Der Redner ignoriert dabei geschickt, daß der Begriff »Natur« in Naturwissenschaft überhaupt nichts mit dem Begriff »Natur« in Naturrecht zu tun hat.
»Das gleiche gilt aber auch für die Vernunft in einem
positivistischen, weithin als allein wissenschaftlich angesehenen
Verständnis. Was nicht verifizierbar oder falsifizierbar ist, gehört
danach nicht in den Bereich der Vernunft im strengen Sinn. Deshalb
müssen Ethos und Religion dem Raum des Subjektiven zugewiesen werden und
fallen aus dem Bereich der Vernunft im strengen Sinn des Wortes heraus.
Wo die alleinige Herrschaft der positivistischen Vernunft gilt – und
das ist in unserem öffentlichen Bewußtsein weithin der Fall –, da sind
die klassischen Erkenntnisquellen für Ethos und Recht außer Kraft
gesetzt. Dies ist eine dramatische Situation, die alle angeht und über
die eine öffentliche Diskussion notwendig ist, zu der dringend
einzuladen eine wesentliche Absicht dieser Rede ist.«
Jetzt sind wir fast am Kern. Schon im letzten Abschnitt spricht der Redner von »Natur und Vernunft«. Und hier setzt er nun Vernunft gleich mit funktional-naturwissenschaftlicher Sicht. (Ich benutze hier ganz bewußt nicht den Begriff Positivismus, da dieser weit mehr als die hier vom Redner genutzte Bedeutung umfaßt.) Diese Setzung bedingt nun, daß Ethik und Religion nicht dem Bereich Vernunft im strengeren Sinne zugeordnet werden können. Daher schiebt er sie in den »Raum des Subjektiven« und behauptet, diese Zuordnung sei zwingend.
Und nun kommt die große Klammer:
- Seit mehr als zweitausend Jahren liefert das von den Stoikern postulierte Naturrecht die Grundlage von Recht und Ethik
- Recht und Ethik sind vernünftig aus dem Naturrecht begründbar und ableitbar.
- Das »positivistische« Verständnis von Natur hat diese Verbindung zerstört.
- Dadurch wurde Ethik und Recht jede Grundlage entzogen
- Somit gibt es keine Entscheidungskriterien für den verantwortlichen Politiker mehr.
- Dies ist eine dramatische Situation, die unbedingt diskutiert werden muß.
»Das positivistische Konzept von Natur und Vernunft, die
positivistische Weltsicht als Ganzes ist ein großartiger Teil
menschlichen Erkennens und menschlichen Könnens, auf die wir keinesfalls
verzichten dürfen. Aber es ist nicht selbst als Ganzes eine dem
Menschsein in seiner Weite entsprechende und genügende Kultur. Wo die
positivistische Vernunft sich allein als die genügende Kultur ansieht
und alle anderen kulturellen Realitäten in den Status der Subkultur
verbannt, da verkleinert sie den Menschen, ja sie bedroht seine
Menschlichkeit.«
Der Redner positioniert sich nun nicht als Gegner der Naturwissenschaften, sondern werist darauf hin, daß sie nicht ausreichen, daß sie nur das »Sein« beantworten können, nicht aber das »Sollen«, nur Funktion, nicht aber Ethik.
»Ich sage das gerade im Hinblick auf Europa, in dem weite
Kreise versuchen, nur den Positivismus als gemeinsame Kultur und als
gemeinsame Grundlage für die Rechtsbildung anzuerkennen, alle übrigen
Einsichten und Werte unserer Kultur in den Status einer Subkultur
verwiesen und damit Europa gegenüber den anderen Kulturen der Welt in
einen Status der Kulturlosigkeit gerückt und zugleich extremistische und
radikale Strömungen herausgefordert werden.«
Nun postuliert der Redner, in Europa würden weite Kreise den »Positivismus« als gemeinsame Kultur und Grundlage der Rechtsbildung anerkennen und alles darüber hinaus abwerten.
Nachdem zwischen »Positivismus« und Ethik ein unüberbrückbarer Graben besteht, findet nach Ansicht des Redners die Rechtsbildung nun anscheinend rein nach naturwissenschaftlichen Erkenntnissen frei von ethischen Überlegungen statt (kann auch sein, daß die Ethik völlig kaputt ist, nachdem sie ihre Grundlage verloren hat, das ist mir nicht so ganz klar). Zudem führt die Fokussierung der Naturwissenschaften zur Kulturlosigkeit (zumindest im Vergleich zu anderen Staaten) und bringt Extremismus hervor.
»Die sich exklusiv gebende
positivistische Vernunft, die über das Funktionieren hinaus nichts
wahrnehmen kann, gleicht den Betonbauten ohne Fenster, in denen wir uns
Klima und Licht selber geben, beides nicht mehr aus der weiten Welt
Gottes beziehen wollen. Und dabei können wir uns doch nicht verbergen,
daß wir in dieser selbstgemachten Welt im stillen doch aus den Vorräten
Gottes schöpfen, die wir zu unseren Produkten umgestalten. Die Fenster
müssen wieder aufgerissen werden, wir müssen wieder die Weite der Welt,
den Himmel und die Erde sehen und all dies recht zu gebrauchen lernen.«
Die »positivistische« Welt ist ein Konstrukt, das uns von der wahren Welt Gottes abkoppelt, ohne daß wir uns dabei vollständig von ihr lösen können. Es ist eine graue, enge Welt, ein Betonsarg, ganz im Gegensatz zur schönen bunten echten Welt Gottes.
Oh, ein ganz neuer Aspekt. Nicht nur, daß wir keine Ethik mehr haben, unsere naturwissenschaftliche Weltsicht hat uns die Welt zudem fad und grau gemacht. Hier verlassen wir die Form der Erörterung, des Diskurses völlig, wir kriegen ein Bild, eine Metapher, die unsere Gefühle ansprechen soll, die nicht begründet, belegt, sondern einfach vom Redner gesetzt wird.
»Aber wie geht das? Wie finden wir in die Weite, ins Ganze? Wie kann
die Vernunft wieder ihre Größe finden, ohne ins Irrationale abzugleiten?
Wie kann die Natur wieder in ihrer wahren Tiefe, in ihrem Anspruch und
mit ihrer Weisung erscheinen?«
Was nun? Wir brauchen diese Verbindung wieder, da wir ja mit dieser rationalen, auf dem Naturrecht fußenden Ethik so gut gefahren sind.
»Ich erinnere an einen Vorgang in der
jüngeren politischen Geschichte, in der Hoffnung, nicht allzusehr
mißverstanden zu werden und nicht zu viele einseitige Polemiken
hervorzurufen. Ich würde sagen, daß das Auftreten der ökologischen
Bewegung in der deutschen Politik seit den 70er Jahren zwar wohl nicht
Fenster aufgerissen hat, aber ein Schrei nach frischer Luft gewesen ist
und bleibt, den man nicht überhören darf und nicht beiseite schieben
kann, weil man zu viel Irrationales darin findet. Jungen Menschen war
bewußt geworden, daß irgend etwas in unserem Umgang mit der Natur nicht
stimmt. Daß Materie nicht nur Material für unser Machen ist, sondern daß
die Erde selbst ihre Würde in sich trägt und wir ihrer Weisung folgen
müssen.«
Der Redner beschreibt sehr schön, daß das Gefühl, ein vielleicht sogar unbestimmtes gesellschaftliches Bauchgrummeln wesentlich für die entstehende Ökobewegung war, die zumindest spürte, das etwas falsch läuft, wenn sie auch nicht wußte was. Das Ganze wird schön poetisch in den Vers gepackt, »daß
die Erde selbst ihre Würde in sich trägt«.
»Es ist wohl klar, daß ich hier nicht Propaganda für eine
bestimmte politische Partei mache – nichts liegt mir ferner als dies.
Wenn in unserem Umgang mit der Wirklichkeit etwas nicht stimmt, dann
müssen wir alle ernstlich über das Ganze nachdenken und sind alle auf
die Frage nach den Grundlagen unserer Kultur überhaupt verwiesen.«
Wir sind immer noch mitten in den Kernthemen. Die Grundlagen unserer Kultur bedingen unseren Umgang mit Wirklichkeit.
Erlauben Sie mir, bitte, daß ich noch einen Augenblick bei diesem Punkt
bleibe. Die Bedeutung der Ökologie ist inzwischen unbestritten. Wir
müssen auf die Sprache der Natur hören und entsprechend antworten. Ich
möchte aber nachdrücklich einen Punkt noch ansprechen, der nach wie vor
weitgehend ausgeklammert wird: Es gibt auch eine Ökologie des Menschen.
Auch der Mensch hat eine Natur, die er achten muß und die er nicht
beliebig manipulieren kann. Der Mensch ist nicht nur sich selbst
machende Freiheit. Der Mensch macht sich nicht selbst. Er ist Geist und
Wille, aber er ist auch Natur, und sein Wille ist dann recht, wenn er
auf die Natur hört, sie achtet und sich annimmt als der, der er ist und
der sich nicht selbst gemacht hat. Gerade so und nur so vollzieht sich
wahre menschliche Freiheit.«
Nun folgt eine Analogie. Genauso wie die Würde der Welt müssen wir auch die Natur des Menschen achten. Und wir erfahren auch, wie das geht. Er muß auf die Natur hören und sie achten und annehmen. Denn er hat sich nicht selbst geschaffen, ist nicht Konstrukt seiner selbst, ist seinem Schöpfung-sein verpflichtet. Beachte: er muß auf
die Natur hören, nicht auf
seine Natur, es geht hier nicht um Psychoratgeber zum besser fühlen sondern um eine Verpflichtung. Sich selbst und seinen Mitmenschen gegenüber.
»Kehren wir zurück zu den Grundbegriffen Natur und Vernunft, von denen
wir ausgegangen waren. Der große Theoretiker des Rechtspositivismus,
Kelsen, hat im Alter von 84 Jahren – 1965 – den Dualismus von Sein und
Sollen aufgegeben. Er hatte gesagt, daß Normen nur aus dem Willen kommen
können. Die Natur könnte folglich Normen nur enthalten, wenn ein Wille
diese Normen in sie hineingelegt hat. Dies wiederum würde einen
Schöpfergott voraussetzen, dessen Wille in die Natur miteingegangen ist.«
Da wir so weit gekommen sind, bekommen wir noch ein ermunterndes Beispiel für jemanden, der den Weg vom Positivismus zum Glauben zurück gefunden hat. Und als Zugabe sogar noch einen halben Gottesbeweis für einen Schöpfergott.
»„Über die Wahrheit dieses Glaubens zu diskutieren, ist völlig
aussichtslos“, bemerkt er dazu. Wirklich? – möchte ich fragen. Ist es
wirklich sinnlos zu bedenken, ob die objektive Vernunft, die sich in der
Natur zeigt, nicht eine schöpferische Vernunft, einen Creator Spiritus
voraussetzt?«
Schauen wir doch mal, ob wir diesen Gottesbeweis nicht rund bekommen.
»An dieser Stelle müßte uns das kulturelle Erbe Europas zu Hilfe
kommen. Von der Überzeugung eines Schöpfergottes her ist die Idee der
Menschenrechte, die Idee der Gleichheit aller Menschen vor dem Recht,
die Erkenntnis der Unantastbarkeit der Menschenwürde in jedem einzelnen
Menschen und das Wissen um die Verantwortung der Menschen für ihr
Handeln entwickelt worden. Diese Erkenntnisse der Vernunft bilden unser
kulturelles Gedächtnis. Es zu ignorieren oder als bloße Vergangenheit zu
betrachten, wäre eine Amputation unserer Kultur insgesamt und würde sie
ihrer Ganzheit berauben. Die Kultur Europas ist aus der Begegnung von
Jerusalem, Athen und Rom – aus der Begegnung zwischen dem Gottesglauben
Israels, der philosophischen Vernunft der Griechen und dem Rechtsdenken
Roms entstanden. Diese dreifache Begegnung bildet die innere Identität
Europas. Sie hat im Bewußtsein der Verantwortung des Menschen vor Gott
und in der Anerkenntnis der unantastbaren Würde des Menschen, eines
jeden Menschen Maßstäbe des Rechts gesetzt, die zu verteidigen uns in
unserer historischen Stunde aufgegeben ist.«
Hier erleben wir nun wieder einen geschickten Taschenspielertrick. Die aufgestellte Behauptung war, es sei nicht aussichtslos über die
Wahrheit des Glaubens an einen Schöpfergott zu diskutieren, mit anderen Worten, es gäbe Möglichkeiten, diese Wahrheit zu belegen. Wie geschieht dies nun? Wir erleben das folgende Argumentationsmuster: Die Menschenrechte wurden auf Basis des Glaubens an einen Schöpfergott entwickelt. All dies und noch viel mehr bildet unser kulturelles Gedächtnis. Das müssen wir wertschätzen, sonst wären wir kulturlos.
Im besten Fall lernen wir hier, daß der
Glaube an einen Schöpfergott Grundlage für die Entwicklung der Menschenrechte war, aber dazu muß ja nicht
wahrhaftig ein Schöpfergott existieren. Bewiesen ist damit also gar nichts. Zudem ist sicher strittig, wie wichtig dieser Glaube bei der Entwicklung der Menschenrechte war, der Humanismus als Gegenmodell wird hier nicht mal angesprochen. Doch der Abschnitt benutzt noch einen zweiten rhetorischen Trick. Er sagt: »Diese Erkenntnisse der Vernunft bilden unser
kulturelles Gedächtnis. Es zu ignorieren oder als bloße Vergangenheit zu
betrachten, wäre eine Amputation unserer Kultur insgesamt und würde sie
ihrer Ganzheit berauben«. Was genau ist hier gemeint? »Es« ist das kulturelle Gedächtnis, das wir nicht einfach ignorieren sollen. Woraus besteht das kulturelle Gedächtnis? Aus den »Erkenntnisse[n] der Vernunft«, die da wären Menschenwürde, Menschenrechte, Verantwortung usw. Kein Problem, wollen wir alles nicht vergessen. Was in dieser Aussage jedoch mitschwingt ist der Schöpfergott als Grundlage des Ganzen.
Letztlich beinhaltet dies das Glaubensbekenntnis des Redners: Die römisch-katholische Kirche ist Bewahrerin der jüdisch-griechisch-römischen Kulturbasis des sogenannten christlichen Abendlandes, die die unabdingbare Grundlage einer vernunftbasierten Ethik darstellt.
»Dem jungen König Salomon ist in der Stunde seiner Amtsübernahme eine
Bitte freigestellt worden. Wie wäre es, wenn uns, den Gesetzgebern von
heute, eine Bitte freigestellt wäre? Was würden wir erbitten? Ich denke,
auch heute könnten wir letztlich nichts anderes wünschen als ein
hörendes Herz – die Fähigkeit, Gut und Böse zu unterscheiden und so
wahres Recht zu setzen, der Gerechtigkeit zu dienen und dem Frieden.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!«
Ein schöner, harmonisch und harmlos klingender Schluß. Und auch hier scheint der Anspruch wieder durch, die eine Grundannahmen, die den Schöpfergott benötigt: »wahres Recht«, die Existenz einer (vielleicht nicht immer erkennbaren) Wahrheit. Daß Recht gerade in einer Demokratie Ergebnis von Aushandlungsprozessen ist, wird zwar implizit in Teilen anerkannt, aber als unzureichend abgetan. Daß die Ethik und die Rechtsphilosophie sich weiterentwickelt haben, daß die Gegenströmung des Humanismus ebenso Antworten bereithält, daß vielleicht sogar das Gewissen des Einzelnen auch ohne religiöse Prägung moralisches Handeln bedingen kann, wird nicht diskutiert.
Die einfachen, oberflächlichen, konsensualen Aussagen des Vortrags sind schnell zusammengefaßt:
- technokratisch-funktionales Denken und Handeln führt zu einer kalten, grauen Welt und verletzt die Würde aller
- Aufgabe der Politik, der Legislative muß sein, Grundwerte höher zu werten als Machtstreben
- Hierzu bedarf es eines fundierten Wertesystems für die Akteure
- Die Kirche bietet sich an, diese Fundierung zu liefern.
Und bis auf den letzten Punkt kann ich diesen Aussagen vollumfänglich zustimmen. Sie sind nur nicht die Kernaussagen des Vortrags.
Durchgängig benutzt der Vortrag eine Reihe von Mitteln um Zustimmung zu erzeugen.
- Zum einen werden zustimmungsfähige Oberbegriffe eingeführt, dann aber ohne dies zu diskutieren in Teilbedeutungen benutzt, die nicht zwingend konsensual sind.
- Der Text argumentiert fast ausschließlich mit dem Gerechtigkeits-, bzw. Rechtsbegriff, nutzt ihn aber auf eine Art als umfasse er alle Menschenrechte.
- Die Existenz von Wahrheit wird implizit vorausgesetzt und nicht diskutiert.
- Textteile, die vom Textaufbau her als Begründungen für andere Aussagen aufgefaßt werden können, behandeln geschickt ein anderes aber hinreichend nahes Thema
- Konsensfähige Aussagen werden begründet, wobei in der Begründung die eigentlich interessante unbewiesene Behauptung steckt. Der Trick besteht hierbei darin, daß ich die Begründung glaube, weil ich ja der Aussage zustimme.
- Alternative Erklärungsmodelle und Wertsysteme werden ignoriert, der Text postuliert Alternativlosigkeit zur vorgestellten Lösung.
- So wird beispielsweise überhaupt nicht diskutiert, ob vielleicht das momentane Wirtschaftssystem die Entfremdung und Entwürdigung der Menschen vorantreibt und die Politiker nicht das Problem haben, daß ihnen ein Wertesystem, eine Ethik fehlt, sondern vielmehr, daß sie nicht wissen, wie sie selbige als Getriebene dieses globalisierten Systems umsetzen sollen.
- Ich habe im Text selbst die meisten Gegenargumente nicht genannt. Ich habe versucht Argumentationsmuster und -lücken aufzuzeigen, an den entstandenen Stellen kann jeder nun seine eigenen Lieblingsargumente einfügen.
Ich habe beim Bearbeiten des Textes einiges gelernt.
- Ich verstehe die Denkmuster des Heiligen Stuhls nun um einiges mehr und kann ein paar Entscheidungen und Strategien besser nachvollziehen.
- Ich verstehe, wieso der Vortrag so positiv aufgenommen wird und auf so viel Zustimmung stößt, bestenfalls als harmlos gilt.
- Ich danke Dominik für die Diskussionen zum Thema und hoffe auf einen Kommentar zu philosophischen Denkstrukturen und Hintergründen. Und denk an Adam Smith.
- Ich habe weder eine Ausbildung in Diskursanalyse noch in Theologie oder Philosophie und hab mich eben durchgewühlt, so gut ich konnte. Ich hoffe, ich habe nicht zu große Fehler.
- Ich hab viel viel viel zu viel Zeit in diesen Text gesteckt und darob diese Nacht nicht geschlafen. (Ich hoffe man merkt es dem Text nicht zu sehr an.) Sowas ist einfach viel zu aufwendig.
- Ich hatte meinen Spaß.
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